René Dondelinger, 22
Gaston Elchroth, 21
Pierre Feltz, 22
René Jaques Freres, 23
Albert Gaviny, 24
René Goebel, 23
Ferdy Hansen, 23
René Kauffmann, 22
René Kayser, 20
Leon Mathias Kohn, 22
Marcel Scheibel, 20
Alfred Schloesser, 24
Edouard Schroeder, 23
Jean Serres, 23
Pierre Sinnes, 23
Jean Urth, 21

Die Hinrichtung von 16 Luxemburgern in Diez im Herbst 1944

von Adolf Morlang

1. Statt einer Einleitung

»Es ist mir geradezu ein Bedürfnis, dem luxemburgischen Volke von seinen Helden zu berichten, die ihr junges Leben freudevoll für ihr Luxemburg hingegeben haben. Noch nie erschütterte mich eine Exekution so, wie bei diesen Helden.«

(aus dem Bericht des Diezer Gefängnispfarrers Kneip aus dem Jahr 1945)

2. Rückblick: Nassau und Luxemburg

Es ist eine bekannte Tatsache, da es im Laufe der Geschichte enge Beziehungen zwischen dem nassauischen Raum und Luxemburg gab. Es sei hier kurz erinnert an das Jahr 1890, als Adolph, der letzte regierende Herzog von Nassau, die Erbfolge als Großherzog in Luxemburg antrat. Nach wie vor befindet sich das Erbbegräbnis der evangelischen Mitglieder des luxemburgischen Herrscherhauses in der Schloßkirche zu Weilburg, wo in diesem Jahrhundert noch drei Beisetzungen stattfanden, die letzte 1953. 1977 hielt sich Großherzog Jean während eines Staatsbesuchs auch in Weilburg auf, 1990, bei einem anderen Besuch, pflanzte er auf dem Schloßplatz eine Linde, und jeden Sommer übernimmt er die Schirmherr- schaft der Weilburger Schloßkonzerte. Es muß aber auch daran erinnert werden, daß die Beziehungen zu Luxemburg durch die beiden Weltkriege zeitweise erheblich belastet wurden, besonders während des 2. Weltkrieges. Der vorliegende Beitrag möchte in diesem Zusammenhang auf ein relativ unbekanntes Ereignis eingehen: Die Hinrichtung von 16 Luxemburgern in Diez im Herbst 1944.

3. Hintergrund: Luxemburg als »CdZ-Gebiet«

Nach der Besetzung durch die Wehrmacht im Mai 1940 war Luxemburg ein ans »Großdeutsche Reich« »angegliedertes Gebiet« - im Westen waren das noch das Elsaß und Lothringen -, für das ein »Chef der Zivilverwaltung« (CdZ) ernannt wurde, der die volle Eingliederung ins Reich vorantreiben sollte. Diese Funktion übernahm am 2. 8. 1940 Gustav Simon, Gauleiter des benachbarten Gaues »Koblenz-Trier«. Dieser um Luxemburg erweiterte Gau hieß ab 9. 2. 1941 Gau »Moselland«.

Mit zahlreichen Verordnungen begann Simon sofort seine Eindeutschungspolitik: Polizei und Gendarmerie kamen unter deutsches Kommando, die deutsche Sprache wurde als einzige offizielle Sprache zugelassen, der »Deutsche Gruß« wurde eingeführt, Vor- und Familiennamen mußten eingedeutscht werden, Parteien wurden verboten und sogar Baskenmützen durften nicht mehr getragen werden u. a. m. Die üblichen nationalsozialistischen Organisationen wurden eingerichtet: Arbeitsdienst, HJ usw.

Eine besondere Rolle spielte in diesem Zusammenhang die »Volksdeutsche Bewegung« (VDB) unter Professor Kratzenberg, die bereits im Juni 1940 gegründet wurde. Die VDB setzt sich massiv für die Eingliederung Luxemburgs ins Reich ein. Dies war nach der offiziellen Propaganda kein Problem mehr, denn diese verkündete damals folgendes:

Die Luxemburger aber sollten selbst den Weg zurück zu ihrem Volke finden. Ein innerer Umbruch im Denken begann, der in Umfang und radikaler Umwertung aller Begriffe die geistige Revolution in Deutschland selt der Machtübernahme übertraf: Das Häuflein deutschbewußter Luxemburger war zunächst sehr klein. Einige wenige Männer hatten unter der Führung von Prof. Kratzenberg zur Pflege deutschen Kulturlebens 1934 die »Luxemburger Gesellschaft für Deutsche Literatur und Kunst« ins Leben gerufen. In dieser Vereinigung hatten sich alle Kräfte gesammelt, die auch unter dem entwürdigenden Druck und öffentlichen Anfeindungen sich klar und stolz zum Deutschtum bekannten. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen entwuchs aus dieser Gemeinschaft der aktive politische Stoßtrupp zur Willensbildung aller Luxemburger: die »Volksdeutsche Bewegung!«

Sie hatte zunächst nur das eine Ziel, den volksdeutschen Gedanken zu pflegen und das Verständnis für die Politik und Wesensart des Großdeutschen Reiches zu wecken. Es fehlten aber die geschulten Organisatoren und die Richtlinien, um eine geschlossene Kampftruppe zu erstellen. Erst der Gauleiter gab der Volksdeutschen Bewegung die Parole und die notwendigen helfende Kräfte, um sie in wenigen Monaten zu einer ungestüm anschwellenden und mitreißenden Bewegung erstarken zu lassen. Unter dem Kampfruf »Heim ins Reich« wurde die Freiheit des Handelns gewonnen und in hunderten und aberhunderten von Versammlungen, Aufmärschen und kulturellen Veranstaltungen die Bevölkerung wachgerüttelt.

Die wenigen Widerstände vonseiten der Intellektuellen, einiger Beamten und Wirtschaftsführer wurden beseitigt und heute kann mart sagen, daß weitaus der größte Tell der Bevölkerung in den deutschen Behörden und Dienststellen die wahren Helfer erblickt und sich vorurteilslos wieder zu ihrem Deutschtum bekannt hat.

In einer Rede vom 21. 9. 1941 nannte Simon stolz die Mitgliederzahlen der verschiedenen NS-Organisationen. Danach waren - um eine Auswahl zu nennen - von rund 300 000 Luxemburgern 69 045 in der VDBI, 57 666 in der DAE, 12 117 in der NS-Frauenschaft, 9547 in der HJ und 7133 im BDM.

Im Gegensatz dazu stehen vertrauliche Berichte verschiedener Behörden, aus denen die ablehnende Haltung der Luxemburger deutlich hervorgeht und in denen auch die VDB kritisch gesehen wird. Bereits 1 1/2 Jahre nach der Besetzung Luxemburgs fühlte sich Gauleiter Simon in seiner Eindeutschungspolitik so sicher, daB er einen nächsten Schritt tat in Richtung Angliederung an das Reich. Im Oktober 1941 wurden unter dem vordergründig harmlosen Titel »Personenstandsaufnahme« Zählkarten an die Bevölkerung ausgegeben. Die Volkszählung war aber eine verkappte Volksbefragung, denn drei der elf Fragen auf der Zählkarte deuteten in diese Richtung und waren für die Betroffenen sehr verfänglich: hierbei ging es um die Staatsangehörigkeit, Muttersprache und Volkszugehörigkeit. In einer umfangreichen Propagandakampagne, besonders in der gleichgeschalteten Presse (z. B. »Luxemburger Wort«), erhielten die Luxemburger Belehrung und Formulierungshilfe, die letztlich auf das Fazit hinauslief: »Luxemburgisch ist keine Sprache, und Luxemburg ist kein Staat«.

Die Widerstandsorganisationen verbreiteten daraufhin Flugblätter mit der Aufforderung die drei entscheidenen Fragen jedesmal mit »Letzebuerger« zu beantworten. Am 10. Oktober 1941 lieB die Gauleitung Stichproben der Zahlkarten einsammeln und muBte bei der Auswertung feststellen, daß trotz aller Propaganda und Drohungen mehr als 95% der Luxemburger den Widerstandsbewegungen gefolgt waren, also gegen den Anschluß an das Reich gestimmt hatten. Gauleiter Simon reagierte entsprechend wütend und stoppte sofort die gesamte Personenstandsaufnahme . Außerdem ging, offensichtlich als eine Art Strafe, vom 13.-31. 10. 1941 eine Lawine von Verordnungen über Luxemburg nieder.

Eine weitere einschneidende Maßnahme war die Einführung der Wehrpflicht am 30. 8. 1942 und die Einberufung der luxemburgischen Männer der Jahrgänge 1920-1924. Parallel dazu wurde die endgültige Eingliederung von Luxemburg - und auch vom Elsaß und Lothringen - dekretiert. In diesem Zusammenhang erhielten Verdiente und Wehrdienstleistende die volle Reichsbürgerschaft und alle »deutschstämmigen« Angehörigen der VDB diese auf Widerruf. Daraufhin wurde von der Widerstandsbewegung am 31. 8. 1942 ein Generalstreik ausgerufen. Bei der Niederschlagung des Streiks in den folgenden Wochen kam es zu zahlreichen Verfolgungen, Verhaftungen und auch zu 21 Hinrichtungen. Insgesamt waren, als auch noch die Jahrgänge bis 1927 erfaßt wurden, 15 409 Luxemburger betroffen. 11 118 wurden zwangsrekrutiert, davon 10211 bei der Wehrmacht. Rund 3500 gingen sofort in den Untergrund, diese werden in Luxemburg »Refraktäre« genannt. Andere rückten zwar zur Wehrmacht ein und machten die Ausbildung mit, tauchten aber bei erster Gelegenheit unter oder liefen zu den Alliierten iiber. Diese heißen »Insoumis«. Hierfür wird auch der Begriff »Deserteur« gebraucht, allerdings nicht im negativen Sinn, da nach dem Verständnis der Luxemburger die Einberufung zur Wehrmacht völkerrechtswidrig und das »Desertieren« der Zwangsrekrutierten daher ein Akt des Widerstands war. Laut Hilgemann kämpften insgesamt 2212 Luxemburger in der Wehrmacht, was viel zu gering angesetzt ist. Nach Dostert hatte Luxemburg allein von den zur Wehrmacht Eingezogenen 2848 als Gefallene und Vermißte zu beklagen.

Um ihren Maßnahmen, besonders der Einberufung zur Wehrmacht, Nachdruck zu verleihen, wurden von den deutschen Behörden »zur Befriedung« Umsiedlungen sowohl angedroht als auch durchgeführt. 4187 Personen wurden insgesamt aus Luxemburg vertrieben und hauptsächlich in den östlichen Teilen des Reiches angesiedelt, z. B. in Schlesien und im Sudetenland. Allerdings war ursprünglich eine viel umfangreichere Umsiedlung geplant: allein 1943 sollten rund 35 000 Personen »abgesiedelt werden«.

Umgekehrt wurden - so der Stand vom Juni 1944 - 1359 »Volksdeutsche« (nach anderen Berechnungen 1415) in Luxemburg angesiedelt. Diese kamen vor allem aus Kroatien, Bosnien und der Südbukowina. Auch 432 Südtiroler kamen nach Luxemburg. Parallel zur Zwangsumsiedlung ging Simon rigoros gegen jene Luxemburger vor, die sich immer häufiger dem Dienst in der Wehrmacht entzogen.

In einem Schreiben vom 8. 2. 1944 an Generaloberst Fromm, dem Befehlshaber des Ersatzheeres, befaßte sich Simon selbst ausführlich mit der zunehmenden Fahnenflucht und nannte drei Gründe: I. Die sich verschlechternde militärische Lage (Rückzug in Rußland, alliierte Bombenangriffe, Nachlassen des U-Boot-Krieges), 2. große Aktivität der Widerstandsbewegung und 3. milde Urteile für Fahnenflüchtige vor einigen Kriegsgerichten. Er zog dann folgende Konsequenzen: Von den luxemburgischen Wehrpflichtigen müsse dasselbe verlangt werden wie von den Soldaten aus dem »Altreich«, und Fahnenflüchtige müßten grundsätzlich zum Tode verurteilt werden, dies gelte auch fiir diejenigen, die sich durch Selbst- verstümmelung der Wehrkraftzersetzung schuldig gemacht hätten, Simons Fazit: »Abschließend fasse ich meine Auffassung dahingehend zusammen, daß kein Fahnenflüchtiger aus dem CdZ-Bereich Luxemburg diesen Krieg überleben darf«.

Im Jahre 1944 gingen, da sich die militärische Lage Deutschlands weiter verschlechterte, die Dersertionen welter, zumal nach der Landung der Alliierten in der Normandie am 6, Juni,

4. Hauptteil: Die Hinrichtungen in Diez im Herbst 1944

Hintergrund und Ablauf der Ereignisse im Herbst 1944 sind nicht mit letzter Sicherheit rekonstruierbar, obwohl die wichtigste Quelle dazu, der o. a. Brief des Gefängnispfarrers Kneip, einige genaue Angaben enthält. Allerdings ist dieser Brief an den luxemburgischen Justizminister erst nach Kriegsende, also über 1/2 Jahr nach den Ereignissen, verfaßt worden. Außerdem gibt es noch - mit dem Datum vom 17. 7. 1945 ein - Verzeichnis der auf dem hiesigen Altstadtfriedhof beerdigten Luxemburger, das wohl ebenfalls von Pfarrer Kneip erstellt wurde. In den Jahren 1973 und 1988 hat der luxemburgische CNR (= Conseil National de la Résistance) weitere Nachforschungen, auch vor Ort, angestellt, Trotzdem bleiben noch Fragen offen.

Nach Pfarrer Kneips Bericht wurden die Luxemburger aus Trier, wahrscheinlich aus dem Gefängnis in der Windstraße, nach Diez gebracht. Sie hatten alle, wie aus den Eintragungen des Bestat- tungsbuches hervorgeht, einen Dienstgrad der Wehrmacht, waren also nach der Terminologie der luxemburgischen Widerstandsorganisation sog. »Insoumis«. Es bleibt aber unklar, wann sie »desertiert« sind, wo sie festgenommen und wann genau sie aus Trier nach Diez gebracht wurden. Nur bei sechs von ihnen weiß man, daß sie bei einem deutschen Angriff auf das »Camp de Lierneux« (ein Lager luxemburgischer Widerstandskämpfer) in Belgien am 2. 2. 1944 gefangengenommen worden waren. Sicher ist dieser »Vorgang« durch die damals berüchtigte »Villa Pauly« gelaufen, seit August 1940 Sitz der Gestapo in Luxemburg.

Pfarrer Kneip nennt insgesamt 16 Opfer, bei der Hinrichtung der ersten sieben war er zugegen, erwähnt aber selber noch »die Exekution der übrigen«. Nach seinen Aufzeichnungen wurden sieben am 19. September erschossen, fünf am 20. Oktober und vier am 26. Oktober 1944.

Die Aktenlage zu diesen 16 Luxemburgern ist äußerst dünn, nur von einem, J. Serres, sind Teile der Untersuchungsakten erhalten. In einem Schreiben der Außenstelle 6 des Chefs der Heeresjustiz im OKH vom 4. 11. 1944, also kurz nach der Hinrichtung in Diez, an den Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres ist eine Kriminalstatistik enthalten, in der auch acht der 16 Luxemburger und ihre Todesstrafe wegen Fahnenflucht erwähnt werden. Diese acht sind Kauffmann, Serres, Freres, Urth, Kayser, Sinnes, Elcheroth und Dondelinger. Aus den Akten geht aber nicht hervor, welches Gericht jeweils die Urteile gefällt hat. Von einem weiteren Luxemburger, P. Feltz, liegt noch eine Aktennotiz vom 25. 1. 1944 vor, in der das Gericht der 172. Division in Koblenz, das wohl den Fall bearbeitete, erwähnt wird. Feltz war - anders als seine Kameraden - wegen »Zersetzung der Wehrkraft« angeklagt. Ob dieses Divisionsgericht auch das spätere Todesurteil verhängt hat, bleibt offen. Aus diesen Unterlagen wird weiterhin deutlich, daß zumindest diese neun Luxemburger alle in verschiedenen Einheiten dienten, z. T. weit weg im Osten Deutschlands. Der Ersatztruppenteil von Serres z. B., von dem wir als einzigem etwas mehr wissen, war die Artillerie-Ersatzabteilung 21 in Scharfenwiese/Südostpreußen (heute: Ostrolenka). Diese neun Luxemburger waren wohl keine geschlossene Gruppe von Widerstandskämpfern, sie sind erst im Laufe der Prozesse, vielleicht auch erst in Diez, alle zusammengekommen.

Der»Fall Serres« begann im Sommer 1943. Seine Untersuchungsakte wurde im Juli vom Gericht der 114. Jägerdivision angelegt, allerdings ist auch diese Akte ohne Urteil. Serres gehörte damals zum Artillerie-Regiment 661, das in Agram (Zagreb) in Kroatien lag. Serres war - um seinen Fall kurz zu rekonstruieren - in keiner NS- Organisation Mitglied, als er am 18. 10. 1942 zur Wehrmacht einrückte. Dort machte er nach der Grundausbildung eine Spezialausbildung zum Funker mit. Im April 1943 wird in seinen Unterlagen vermerkt: »Bekämpfung der Aufstandsbewegung im serb.-kroat- Raum«. Sein Batteriechef hatte offensichtlich eine sehr gute Meinung von ihm. In einer Beurteilung vom 12. Juli 1943 heißt es u. a.: »ordentlicher Soldat, offen und ehrlich, immer zuvorkommend, gibt sich große Mühe«, weiterhin »geistig sehr rege, körperlich kräftig, guter Sportler«, «Führung: sehr gut« und schießlich, Politische Einstellung: »es bestehen keine Bedenken«. Disziplinarstrafen lagen nicht vor. Von seinem letzten Heimaturlaub (8. 6. bis 2. 7. 1943) kehrte er nicht zu seiner Einheit zurück. Sein Batteriechef hielt immer noch zu ihm und erwähnte keine Fahnenflucht, sondern schrieb: »Es wird angenommen, daß Serres bei der Rückfahrt zur Truppe in Westdeutschland bei einem Fliegerangriff veeunglückt ist«. ein Kamerad aus Luxemburg, der Kanonier J. Becker aus Lintgen, hat ihn als letzter am 26. 6. 1943 im Zug bei Luxemburg gesprochen. Nach Beckers Aussage wollte Serres pünktlich bei der Truppe sein. Auch sein Vater, der am 16. 10. 1943 polizeilich verhört wurde, war völlig überrascht von der Fahnenflucht seines Sohnes, dessen Urlaub angeblich völlig normal und ohne auffälliges Verhalten verlaufen sei. Weitere Angaben gibt es nicht. Damit bleibt offen, wo und wann Serres von seinem Weg zur Truppe abgewichen und untergetaucht ist, wo er gefaßt wurde und in Untersuchungshaft saß wann und durch welches Gericht er verurteilt wurde und schließlich wann er nach Diez kam.

Die Hinrichtungen sind nach Aussagen älterer Freiendiezer Bürger recht genau lokalisierbar (s. Anhang, Nr. 1, 2 u. 3). Die von den Luxemburgern 1988 angestellten und als unsicher bezeichneten Recherchen können damit präziser gefaßt werden. Die Erschießung, von denen Pfarrer Kneip berichtet, fanden vor einer Lehmgrubenwand hinter der Ziegelei Sartorius statt. Diese Lehmgrube war erst während des Krieges angelegt worden. Allerdings erwähnt Pfarrer Kneip eine »Kiesgrube«, die es dort sicher nicht gab; wahrscheinlich hat er die Lehmgrube mit einer Kiesgrube verwechselt. Die Delinquenten wurden, wie er sagt, in einem »Wagen« in »7 Minuten« vom Gefängnis dorthin gebracht. Gemeint ist ein zweispänniger gefängniseigener Pferdewagen mit Kastenaufsatz, mit dem man in der angegebenen Zeit gut das Ziegeleigelände erreichen konnte. Der Zugang hierzu lag in der Limburger Straße an der Stelle des heutigen TÜV.

Die eigentliche Hinrichtungsstätte ist nicht mehr vorhanden, denn ab 1949 wurde die o. a. Lehmgrube in östlicher Richtung erweitert. Die gesamten Ziegeleien wurden in den 70-er Jahren abgerissen, auf deren Gelände steht jetzt ein Supermarkt. Eine breite innerstädtische Umgehungsstraße tangiert inzwischen ebenfalls diesen Bereich und überdeckt unmittelbar hinter der Abfahrt Goethestraße den nördlichen Tell der besagten Lehmgrube, die teilweise mit Wasser vollgelaufen und zugewuchert ist. Die Fahrt vom Gefängnis zum Ziegeleigelände führte durch bewohntes Gebiet (gemeint sind die Häuser der Limburger Straße), denn die Wachmannschaft fürchtete - laut Pfarrer Kneip - »die ganzen Leute würden zusammenlaufen«, wenn die Luxemburger weiter so laut auf dem Wagen sängen. Während der Erschießungen sperrten Posten die an der Lehmgrube vorbeiführenden Wege (Weiherstralße und Verbindungsweg Weiherstraße - Limburger Straße) ab, wodurch den Anwohnern erst recht klar wurde, daß wieder irgendwelche Opfer (nicht nur die Luxemburger) hingerichtet wurden. Die Erschießung der zweiten fünfköpfigen Gruppe am 20. 10. 1944 fand, so viel man weiß, an anderer Stelle statt, und zwar in einer Sandgrube neben der Bahnlinie Limburg-Staffel 500 m nördlich des Gefängnisses. Das Gelände dieser Grube wurde später mit Bauschutt aufgefüllt und dient heute als Hundeübungsplatz. Die vier letzten Luxemburger sind anscheinend wieder auf dem Ziegeleigelände exekutiert worden.

Die Diezer Bevölkenung hat von diesen Erschießungen gewußt und unter der Hand darüber gesprochen. Die meisten hat dieser Vorgang offensichtlich erschüttert und empört, zumal diejenigen, die selbst gute Beziehungen zu Luxemburg hatten. Es handelte sich dabei um Bergleute aus dem hiesigen Raum, die zur Zeit des Kaiserreiches wegen besserer Verdienstmöglicbkeiten in lothringischen Gruben gearbeitet hatten, 1918 in die alte Heimat zurückgekehrt waren und dann während der Wirtschaftskrise in den 20-er und 30-er Jahren in den luxemburgischen Erzgruben Arbeit gefunden hatten. Der Bestattungsort der 16 Erschossenen liegt dagegen genau fest. In dem o. a. »Verzeichnis« ist vom »hiesigen Altstadtfriedhof« die Rede. Obwohl ab 1941 der Neue Friedhof am Hain belegt wurde, sind die 16 Luxemburger 1944 noch auf dem Alten Friedhof, jetzt »Robert-Heck-Park«, beigesetzt worden. Im Bestattungsbuch dieses Friedhofs werden für die einzelnen Toten Namen, Geburtsort, Dienstgrad und Lage des Grabes genau angegeben. Bei jeder Gruppe der Luxemburger steht jeweils einmal der Vermerk »er- schossen«. Außerdem wird bei jedem die Überführung nach Luxemburg am 6. 5. 1946 erwähnt.

Im übrigen wurden im Diezer Gefängnis außer den 16 Hingerichteten zeitweise noch mindestens 25 andere Luxemburger gefangengehalten. Der Anlaß für die Diezer Exekutionen ist unklar. Man hat sie auch als Geiselerschießungen gedeutet, da am 20. Juli 1943 der VDB-Ortsgruppenleiter von Junglinster (ein Ort zwischen Luxemburg und Echternach) von Untergrundkämpfern erschossen worden war. Am 23. 8. 1944 wurden daraufhin in Siegburg drei Luxemburger hingerichtet, einen Tag später noch einmal sieben in Lingen. In Siegburg gibt es selt 1984 eine Gedenktafel für diese Opfer. Das späte Datum der Exekutionen in Diez allerdings - zwei bis drei Monate nach dem Attentat in Junglinster - gibt doch zu Zweifeln Anlaß, ob dies mit dem Anschlag zusammenhängende Geiselerschießungen waren.

Nach dem Krieg kam es zu einem Prozeß gegen Mitglieder des Diezer Gefängnispersonals vor dem französischen »Tribunal général« in Rastatt. Am 22. 12. 1948 wurden zehn Personen (Aufseher, Gefängnisdirektor und -arzt) verurteilt, und zwar zu Freiheits- bzw. Zuchthausstrafen von mindestens fünf bis zu 20 Jahren, einer der Angeklagten, der Leiter des Reviers, erhielt »lebenslänglich«.

Der Brief Pfarrer Kneips sollte jedoch nicht nur deswegen herangezogen werden, um Fakten zum Ablauf und Lokalisieren der Hinrichtungen zu liefern. Er bewirkt ja, wenn man ihn als ganzes nimmt und interpretiert, auch heute noch beim Leser eine starke Betroffenheit und erinnert in gewisser Hinsicht, was Haltung, ja Heiterkeit der Delinquenten angeht, an Berichte aus frühchristlichen Märtyrerakten. Die Haltung der sieben Luxemburger wirkt ja schon fast übermenschlich souverän, besonders die des Gefangenen Kaiser, der wohl eine besondere Rolle innerhalb der Gruppe spielte. Sie alle schienen weniger betroffen zu sein als der Gefängnispfaner, der sieja an sich trösten sollte und der schon früher in dieser Situation gewesen war. Ihr Singen, Beten. ihre Worte zeigen einmalige Geistesstärke. Auch das Erschielßungskommando verhielt sich, soweit das die schreckliche Situation überhaupt zuließ, einigermaßen menschlich: die Gefangenen bekamen zeitweise die Fesseln abgenommen. z. B. beim Gebet. Die Wachmannschaften waren anscheinend nicht völlig abgestumpft, denn sie wollten vermeiden, daß Diezer Anwohner - aufmerksam gemacht durch das laute Singen der Delinquenten - die Hinrichtung mitbekamen. Auch erlaubte der kommandierende Offizier »freundlich«, daß die Nationalhymne Luxemburgs überhaupt angestimmt und zu Ende gesungen werden durfte.

5. Ein Urteil: 15 Monate Zuchthaus für drei Brote

Zu dem gsamten Komplex »Fahnenflucht/luxemburgische Gefangene in Diez« ist nur noch eine zweite Gefängnis- bzw. Gerichtsakte greifbar. Sie bezieht sich auf zwei in Diez inhaftierte Luxemburger, die allerdings nicht zu den 16 Exekutierten gehörten. Dennoch erhält man auch durch diese Akte wichtige Hinweise auf die Hintergründe und Durchführung derartiger Strafverfahren:

Der Häftling Josef B. und sein Freund und Mitangeklagter Alfons Sch. hatten Anfang 1944 die Fahnenflucht eines gemeinsamen Bekannten und Gefreiten der Wehrmacht, dessen Urlaub abgelaufen war, unterstützt. Alfons Sch. hatte ihn im selben Zimmer seines Hauses versteckt, in dem er auch schon im Juni 1943 seinen Bruder verborgen hatte. Josef B., von Beruf Bäcker, hatte dem Versteckten drei Brote gegeben. Am 25. 2. 1944 flog die Sache auf, und die Polizei durchsuchte das Haus von Alfons Sch.. Die weiteren Stationen von Josef B, in Stichworten: Am 2. 3. 1944 Einlieferung ins Gerichtsgefängnis Diekirch, am 14. 3. 1944 im Strafgefängnis Wittlich, ab 4. 5. 1944 in der Strafanstalt Rheinbach bei Bonn, am 12. 9. 1944 schlieBlich verlegt in die Strafanstalt Diez, wo auch Alfons Sch. inhaftiert war. Beide waren also einige Tage bzw. Wochen mit den 16 hingerichteten Luxemburgern im Diezer Gefängnis. Am 23. 5. 1944 waren beide mit der Frau des »Deserteurs« vom Sondergericht Luxemburg verurteilt worden:

  • Die Ehefrau wegen Beihilfe zur Fahnenflucht zu zwei Jahren Zuchthaus
  • Alfons Sch. wegen Beihilfe zur Fahnenflucht in zwei Fällen und Besitz einer kommunistischen Schrift zu fünf Jahren Zuchthaus
  • Josef B. wegen Beihilfe zur Fahnenflucht zu 15 Monaten Zuchthaus

Die Tatsache, daß letzterer schon selt 1940 Mitglied in der VDB und bis Januar 1944 sogar Organisationsleiter seiner Ortsgruppe gewesen war, also »gewisse Verdienste um die Bewegung« erworben hatte, wirkte sich strafmildernd aus, so daß ihm auch 82 Tage Untersuchungshaft angerechnet wurden. Besonders interessant ist folgender Abschnitt aus der Urteilsbegründung:

»Was die Strafbemessung im allgemeinen anlangt, so verlangen die Notwendigkeiten des Krieges, daß die Beihilfe zur Fahnenflucht grundsätzlich in gleicher Weise geahndet wird, wie die Fahnenflucht selber, nämlich mit der Todesstrafe. Dennoch erschien diese schwerste Strafe mit Rücksicht auf die Persönlichkeit und Herkunft aller Angeklagten nicht angebracht, da sie ersichtlich dem Wehrgedanken fremd gegenüberstehen und nicht das volle Bewußtsein von der Schwere ihres verbrecherichen Handelns gehabt haben. Diese aus der geschichtlichen Entwicklung im Gebiete des ehemaligen Großherzogtums Luxemburg zu erklärende Einstellung, die auch heute noch in weiten Kreisen der Bevölkerung nicht überwunden ist, rechtfertigt die Anlegung eines milderen Maßstabes wie im Altreiche.«

Zunächst wird hieraus deutlich, welch drakonische Strafen im »Dritten Reich« bei nicht systemkonformem Verhalten üblich waren. Andererseits zeigt sich aber auch, das das »ehemalige Großherzogtum Luxemburg« trotz der offiziellen Bekundungen, die es ab 1942 als Tell des »Großdeutschen Reiches« ansahen, immer noch ein irgendwie besonders behandeltes Gebiet war, auch für das rigorose Sondergericht Luxemburg. Diese Sonderbehandlung galt aber offenbar nur bei »Beihilfe zur Fahnenflucht«; diejenigen aber, die, wie die 16 in Diez Hingerichteten, tatsächlich Fahnenflucht begangen hatten, konnten »einen milderen Maßstab« nicht erwarten, hier wurde ohne Skrupel die »schwerste Strafe« verhängt und vollstreckt. Das Sondergericht existierte von Oktober 1940 bis August 1944. In dieser Zeit verurteilte es 875 Angeklagte und fällte dabei 17 Todesurteile. Während des Streiks und zehntägigen Ausnahmezustands im September 1942 gab es zusätzlich ein Standgericht, das mit praktisch formlosen Verfahren 20 Todesurteile fällte und 50 Überstellungen an die Gestapo aussprach. Im Februar 1944 wurden im SS-Sonderlager Hinzert 23 Luxemburger ohne Prozeß und Urteil hingerichtet.

6. Exkurs: Das SS-Sonderlager Hinzert

Eine verhängnisvolle Rolle spielte für die Luxemburger im 2. Weltkrieg das SS-Sonderlager Hinzert bei Hermeskeil im Hunsrück. Auf Grund seiner Nähe (Luftlinie sind es nur rund 50 km bis zur luxemburgischen Grenze) wurden neben Angehörigen anderer Nationen hauptsächlich Luxemburger hier festgehalten. 1599 Häftlinge, deren Einlieferung in der Regel über die Gestapo-Zentrale »Villa Pauly« erfolgte, sind namentlich bekannt. Viele von ihnen wurden von hier aus in andere Lager weitertransportiert, z. B. nach Natzweiler im Elsaß. Hinzu kommen 82 Luxemburger, die im Lager Hinzert umgekommen sind. Zwei Gruppen dieser Opfer sollen besonders erwähnt werden. Sie wurden an zwei verschiedenen Stellen im Wald südlich des Lagers hingerichtet: Im September 1942 20 Luxemburger, die gegen die Einführung der Wehrpflicht protestiert hatten, und am 25. 2. 1944 nochmal 23 führende Kräfte des luxemburgischen Widerstandes. Eine Gedenkstätte befindet sich auf dem Gelände des früheren SS- Mannschaftslagers, hier wurde 1982 in einer Feierstunde eine große Gedenktafel der Öffentlichkeit übergeben. 1986 kam ein Mahnmal hinzu, das ein luxemburgischer Künstler, der selbst als Häftling in Hinzert war, geschaffen hat.

Drei Gedenkstätten für Massenerschießungen liegen südlich außerhalb des ehemaligen Lagers im Wald, zwei für die o. a. Luxemburger und eine für 70 sowjetische Gefangene - wahrscheinlich Politkommissare -, die im September 1941 durch Giftinjektion getötet und dann im Wald verscharrt wurden. Inzwischen gibt es einen »Förderverein Dokumentations- und Begegnungsstätte ehemaliges KZ Hinzert«, dem verschiedene kirchliche und politische Organisationen angehören, ein diesen Verein beratendes Kuratorium, in dem auch luxemburgische Verbände, z. B. die »Amicale Hinzert«, eine Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Häftlinge, vertreten sind, kommt hinzu. Sie alle kümmern sich um die Gedenkstätte Hinzert ebenso wie Lehrer und Schüler des Gymnasiums Hermeskeil, die besonders die Pflege der Mahnmale im Wald übernommen haben.

7. Exkurs: Wie beurteilt man Deserteure?

Mitte April 1945, kurz vor Einmarsch französischer Truppen wurden in einem Wald bei Waldkirch nördlich von Freiburg fünf deutsche Soldaten wegen »Fahnenflucht« erschossen, ein Vorgang, der 1985 das erste Mal publiziert wurde. Zehn Jahre dauerte es danach, bis es einer Initiativgruppe gelang, gegen massiven Widerstand eine Ver- anstaltungsreihe zum Gedenken an diese fünf Opfer durchzusetzen. Im März 1995 beschlossen die Stadträte von Erfurt mit knapper Mehrheit. einen Platz für das »Denkmal für den unbekannten Wehrmachtsdeserteur« bereitzustellen, denn in der Erfurter Zitadelle, dem Petersberg, waren während des Krieges 50-60 Wehr- machtssoldaten zum Tode verurteilt worden. Das für den 8. 5. 1995 vorgesehene Denkmal steht immer noch nicht. Noch immer streitet man um seine Konzeption und Finanzierung. Ähnlich ist die Lage in der traditionsreichen Marinestadt Flensburg. Hatten dort die Rathausparteien zunächst gemeinsam einen Antrag gestellt, 50 Jahre nach Knegsende ein Denkmal für Deserteure aufzustellen, so ist inzwischen - nach Druck von außen - von dieser Gemeinsamkeit nichts mehr zu spüren und das Projekt erst einmal in Ausschüssen und Arbeitskreisen verschwunden. Diese drei Beispiele zeigen deutlich, da8 der Umgang mit dem Thema »Deserteure« noch immer schwieng ist, da man hier auf komplizierte rechtliche und ethische Fragen stößt, und dies trifft auch auf die in Diez erschossenen 16 Luxemburger zu.

Zunächst einmal ist Desertieren nichts Einfaches, oft erforderte dies mehr Mut als das Weitermachen. Rein rechtspositivistisch gedacht muß man Deserteure negativ bewerten, denn sie haben gegen die damals geltenden Wehrgesetze, die es ähnlich auch in anderen Armeen gab, verstoßen. Dagegen wird angeführt, daß diese formal korrekten Gesetze von einem Regime erlassen wurden, das nach allgemeiner Meinung als Unrechtsstaat gilt. Ist aber dagegen nicht Widerstand erlaubt, ja sogar geboten? 1985 hat der Bundestag die Urteile des Volksgerichtshofes, der 1944/45 die Widerständler des 20. Juli in Schauprozessen verurteilt hatte, aufheben lassen. Erst im September 1994 kam die Debatte über aile Militärgerichtsurteile aus dem Krieg im Bundestag in Gang. Insgesamt waren rund 30000 Todesurteile verhängt, davon rund 20000 vollstreckt, andere in Haftstrafen umgewandelt worden. Die Überlebenden gelten weiterhin als Vorbestrafte, und auch ihren Angehörigen haftet dieser Makel an. Entschädigungen - wie andere politisch Verfolgte - haben sie nicht erhalten. Im September 1995 schien ein von der SPD eingebrachter Gesetzesantrag im Bundestag einen Konsens zu finden. Die beiden ersten Paragraphen daraus lauten:

  1. »Der Deutsche Bundestag stellt fest, daß die deutsche Militärjustiz im nationalsozialistischen Staat - vor allem im Verlauf des Zweiten Weltkrieges - zu einem Terrorinstrument geworden ist, wenngleich sich Richter auch um maßvolle Urteile bemüht haben. Den Opfern und ihren Familien bezeugt der Deutsche Bundestag Achtung und Mitgefühl.«
  2. »Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung und die zuständigen Behörden auf, die Opfer einer Verurteilung wegen der Tatbestände »Desertion/Fahnenflucht, Wehrkraftzersetzung und Wehrdienstverweigerung« und die Hinterbliebenen alsbald zu ent- schädigen. Dabei ist von der Vermutung auszugehen, daß diese Urteile Unrecht waren«.

Inzwischen ist aber dies Verfahren ins Stocken geraten: der CDU/ CSU ging der Beschlußvorgang zu weit, für die Bündnisgrünen dagegen war er ergänzungsbedürftig, und auch die Vertreter der »Bundesvereinigung Opfer der NS-Militäirjustiz« sind unzufrieden: sie wollen nicht nur Entschädigungsgelder, sondern volle Rehabilitierung.

Was nun die luxemburgischen Deserteure angeht, so muß wohl ein Unterschied gemacht werden zu denen aus dem »Altreich«. Luxemburg wurde nämlich 1940 als neutrales Land besetzt. Nach der Haager Landkriegsordnung gilt weiterhin die Treuepflicht zum eigenen Land, auch wenn dieses besetzt ist. Daher sind für die Luxemburger die Einberufungen zur Wehrmacht ab September 1942 völkerrechtswidrige Zwangsrekrutierungen. Auch der Sondergerichtshof in Luxemburg, der damals Fahnenflüchtige aburteilte, sah ja insgeheim einen Unterschied zwischen Reich und Luxemburg, obwohl letzteres ab 1942 als Bestandteil des Reiches galt. Daher ist es wohl verständlich, daß die Luxemburger den Begriff »Deserteur« entschieden ablehnen und das Desertieren; ihrer Zwangsrekrutierten im Krieg als Akt des Widerstandes verstehen.

8. Epilog: Umgang mit Geschichte - aber wie?

In Diez gab es in jüngster Vergangenheit Ansätze, den luxemburgi- schen Opfern von 1944 zu gedenken. 1990 wurde eine Arbeitsgruppe von »terre des hommes« in dieser Sache aktiv. Nach kurzer Diskussion hauptsächlich in der örtlichen Presse versandete diese Initiative, wurde aber von »terre des hommes« im November 1993 wieder aufgegriffen. Dabei zeigte sich, daß die Wertung des Geschehens von 1944 nach wie vor offen ist: während die einen - besonders die Luxemburger - die Hingerichteten als eine Art Widerstandskämpfer sehen, ist für andere, die rein formaljuristisch denken, allein die Tatsache maßgebend, daß im August 1942 in Luxemburg die Wehrpflicht eingeführt wurde und daß daher auch die 16 Luxemburger als »Deserteure« einzustufen seien, auch wenn sie sich nicht als Deutsche fühlten.

Wie also soll man mit den Spuren nationalsozialistischer Vergangenheit umgehen? Auch 50 Jahre nach dem Krieg tun sich Gemeinden und Bürger damit, besonders mit einer möglichen Gedenktafel für »Deserteure«, noch schwer, was an weiteren Beispielen aus Diez deutlich werden soll:

  • Nach vielem Hin und Her wurde 1986 eine Gedenktafel an der Stelle angebracht, wo die jüdische Synagoge stand, die die »Reichs-kristallnacht« 1938 mit relativ geringen Schäden überstanden hatte und erst 1951 abgerissen worden war.
  • Auf dem Freiendiezer Friedhof befindet sich eine kleine Gedenk- stätte mit drei Sandsteinkreuzen und einer in den Boden eingelassenen Platte, auf der neun polnische Namen und die Jahreszahlen »1946-1950« stehen. Weiterführende Erklärungen aber fehlen.
  • Auf dem Gelände der heutigen »Freiherr-vom-Stein-Kaserne« in Freiendiez gab es im 2. Weltkrieg ein Lager für ca. 6000 Gefangene (STALAG XII A). Gefangene verschiedener Nationen sind hier gestorben, besonders groß war die Sterblichkeitsrate bei den Russen. 947 von ihnen wurden später auf dem Friedhof eines ehemaligen Gefangenenlagers aus dem 1. Weltkrieg in Dietkirchen beigesetzt. Ein Gedenkstein aus dem Jahre 1959 erinnert dort an sie. Rund 80 Gefangene - meist Amerikaner - kamen am 23. 12. 1944 im STALAG XII A durch »eigene« Bomben ums Leben, als alliierte Bomber nicht die vorgesehenen Ziele in Limburg, sondern aus Versehen das Lager in Freiendiez trafen. Auch an dieser Stelle, in der heutigen Kaserne, gibt es keinerlei Hinweistafel
  • Im Diezer Krankenhaus wurden im Auftrag der Landesheilanstalt Hadamar auf Grund »rassehygienischer« Gesetze Zwangssterilisationen durchgeführt.
  • Am oberen Ende des sog. »Wasserweges« im Freiendiezer Vorderwald befand sich auf dem Gelände eines alten Sportplatzes eine Art Friedhof. Hier wurden die im STALAG gestorbenen Kriegsgefangenen provisorisch bestattet. Nach dem Kriege wurden sie exhumiert und entweder in ihre Heimat überführt oder auf Soldatenfriedhöfe umgebettet, z. B. die bereits erwähnten 947 Russen.
  • Ende März 1945, also ganz kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner, sind einem Zeitungsbericht von 1948 zu Folge, 20 junge deutsche Soldaten in einer Freiendiezer Kiesgrube als Deserteure erschossen worden. Diese waren wohl z. T. erst ganz kurz bei der Wehrmacht, hatten im Chaos des Rückzuges ihre Einheit verloren und waren als Versprengte aufgegriffen und durch ein Schnellgericht verurteilt worden. (Laut Chronik der Stiftskirche waren es »nur« acht Hingerichtete.)
  • Ziemlich unbekannt ist auch der jüdische Friedhof am Ortsende Richtung Fachingen. Eine Gedenktafel gibt es hier nicht.
  • In dem nicht mehr existierenden Haus Schloßberg 23 (heute Gelände des Diezer Krankenhauses) war das israelitische Kinderheim untergebracht. In einer pogromartigen Aktion im August 1935 wurden 38 Waisenkinder aus dem Haus geholt, nachts ins Kino am Marktplatz geschleppt und am nächsten Tag mit Bussen nach Frankfurt transportiert. Das Heimleiterehepaar und die Kinder kamen vermutlich später im KZ um.
  • Hierzu fehlt ebenso ein Hinweis wie im Schloß Oranienstein, wo während des »Dritten Reiches« in der Nachfolge einer preußischen Kadettenanstalt eine NAPOLA untergebracht war.
  • In diese Reihe gehört auch die Frage, wie und wo man der 16 Luxemburger gedenken sollte.

Es dürfte feststehen, daß es ein äußerst sensibles Unterfangen ist, all diese Opfer auf würdige Weise und mit den richtigen Worten zu ehren. Daß dies aber geschehen sollte, dürfte m. E. feststehen. Die inzwischen gegründete Bürgerinitiative »Gegen das Vergessen« hat vorgeschlagen, an der Schloßtreppe eine Gedenktafel für die jüdischen Waisenkinder anzubringen. Stadtrat und Ausschüsse haben sich hiermit befaßt. Es wurden auch Überlegungen angestellt, entweder ein neues Denkmal für alle Diezer NS-Opfer aufzustellen (etwa im ,,Robert-Heck-Park«) oder das Steinkreuz auf dem Neuen Friedhof, das die sehr allgemeine Inschrift »Den Opfern der Kriege« trägt, zu ergänzen mit genaueren Angaben über die einzelnen Opfergruppen.

Eine kontroverse, aber sachliche Diskussion in den verschiedenen Gremien, in der Presse und Öffentlichkeit wegen dieser Gedenkstätten wäre durchaus sinnvoll und sollte auch nicht vermieden werden. Allerdings sollte man dabei nicht dem oft gebrauchten Schlagwort der »Bewältigung der Vergangenheit« verfallen. Dieser Ausdruck suggeriert nämlich auch, Geschehenes irgendwie ungeschehen machen zu können, was angesichts der Ungeheuerlichkeit der Verbrechen des »3. Reiches« sicher nicht möglich ist. Wichtiger und für uns relevanter sind die Bewältigung der Gegenwart und der Zukunft und auch die Herausforderung eines wiedervereinigten Deutschlands in einer aus den Fugen geratenen Welt. In diesem Sinne äußerte sich auch der jüdische Autor Rafael Seligmann: «Die Beschäftigung mit der Vergangenheit ist notwendig - für Deutsche, Juden und andere. Nicht um Geschichte zu bewältigen, sondern um von ihren Lehren für die Gestaltung der Zukunft zu profitieren. Die lähmende Angst aus der Vergangenheit muß überwunden werden. Statt folgenloser Betroffenheit sind Vernunft und Moral gefragt. Dringend.

Literatur und Quellen:

  • M. Barbel, Student in Hinzert und Natzweiler: Erlebnisaufsätze von KZ Nr. 2915 alias 2188, Luxemburg 1992.
  • P. Dostert, Luxemburg zwischen Selbstbehauptung und nationaler Selbstaufgabe. Die deutsche Besatzungspolitik und die volksdeutsche Bewegung 1940-1945, Luxemburg 1985.
  • E. Glass, Luxemburg und das Reich. Briefe über eine erste Begegnung. Sonderheft der Kulturschrift des Gaues »Moselland«, 1941.
  • W. Hilgemann, Atlas zur deutschen Zeitgeschichte I918-1968, München, 3. AufI. 1986.
  • A. Hohengarten, Wie es im 2. Weltkrieg zur Zwangsrekrutierung Luxemburger Staatsbürger zum Naziheer kam, Luxemburg 1975.
  • E. Kriel, Die deutsche Volkstumspolitik in Luxemburg und ihre sozialen Folgen, in: Dlugoborski (Hg.), Zweiter Weltkrieg und sozialer Wandel, Göttingen 1981, S. 224-241.
  • E. Krier, Die Außenpolitik des Dritten Reiches gegenüber Luxemburg, in: M. Funke (Hg.), Hitler, Deutschland und die Mächte, Diüsseldorf 1976, S. 628-638.
  • Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-PfaLz (Hg.), Ge- denkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus in Rheinland-Pfalz, Mainz, 2. AufI. 1991.
  • F. Meyer, Das Geschlecht der Nassauer in der europäischen Geschichte, in: »Nassauische Heimat in Europa «, Verlagsbeilage der Nass. Landeszeitung Nr 242, 1978, S. 6c ff
    L. Nestler (Hg.), Europa unterm Hakenkreuz. Die faschistische Ok- kupationspolitik in Belgien, Luxemburg und den Niederlanden (194e1945), Berlin 1990.
  • »Rappel«, Revue de la L.P.P.D: Heft 5-6/1984 (Villa Pauly), Heft 7-8/1991 (Gefängnis Diez), Heft 9-10/191 (Personenstandsaufnahme im Okt, 1941), Heft 3/1992 (Streik im Sept. 1942 u. Umsiedelaktion), Heft 2/1993 (ABC des Prisons . . .).
  • J. Schoos, Die Herziige von Nassau als Gro~herziige von Luxem- burg, in: Nass. Artnalen 95, 1984, S. 173~f~ P. Webe~ Geschichte Luxemburgs im Zweiten WeLtkrieg, Luxem- burg, 2. Au~. ~948.

Ungedruckte Quellen:

  • Bundesarchiv/Zentralnachweisstelle Aachen-Kornelimünster RH 15aG/74 u. 87, »Akte J. Serres«
  • Landeshauptarchiv Koblenz, Best. 605/1, Nr. 127, Strafanstalt Diez. Verbandsgemeinde Diez, Bestattungsbuch Alter Friedhof, S. 125-127.